Im Umstellungsprozess sind alle Beteiligten lernend - socialbern.ch

Im Umstellungsprozess sind alle Beteiligten lernend

Die Stiftung Sunneschyn Meiringen setzt seit einigen Monaten das Konzept Lebensqualität von CURAVIVA um. Im Interview berichtet Anne Signer, Leiterin der Fachstelle Lebensqualität beim Sunneschyn Meiringen, von ihren Erfahrungen.


Frau Signer, können Sie mir zu Beginn kurz erklären, worum es sich beim Konzept Lebensqualität handelt?

In diversen Artikeln in der Fachzeitschrift von CURAVIVA und über Kontakte zu Partnerorganisationen wurden wir aufmerksam auf dieses Konzept. Es ist eine Art Denk- und Handlungshilfe für die Mitarbeitenden. Die Arbeit mit diesem Konzept hilft uns die assistierende Begleitung umfassend zu denken und alle Aspekte des Individuums zu berücksichtigen. Inhaltlich geht es im Konzept um die Interessen der Menschen mit Unterstützungsbedarf, ihre Potentiale und ihre Rechte.
 

Was hat Sie motiviert, dieses Konzept im Sunneschyn Meiringen umzusetzen?

Wir beim Sunneschyn Meiringen wollen die Menschen so unterstützen, dass sie ihre persönlichen Lebensentwürfe entwickeln und verwirklichen können. Ein «gutes Leben» bedeutet nicht für alle dasselbe. Für diese Art des Dienstleistungsverständnisses liefert das Lebensqualitätskonzept einen mehrdimensionalen Betrachtungsrahmen.

Ausserdem war es dem Stiftungsrat und der Geschäftsleitung wichtig, ein Konzept einzuführen, welches nah am Menschen ist. Nichts kompliziertes und sicher kein Papiertiger. Es sollte einen praktischen Bezug zum Leben haben. Es war uns wichtig, dass sich die Menschen mit Unterstützungsbedarf und die Mitarbeitenden darin wiederfinden.
 

Wie sind Sie die Umsetzung dann angegangen? Wie haben Sie die Menschen mit Unterstützungsbedarf miteinbezogen?

Die Einführung erfolgte eingebettet in ein umfassendes Organisationsentwicklungsprojekt. Beispielsweise haben wir die Arbeitsdienstleistungen teilweise neu definiert. Im Rahmen einer Umfrage konnten die Menschen mit Unterstützungsbedarf ihre persönlichen Interessen in Bezug auf den Inhalt ihrer Arbeit mitteilen. Wir haben diese Wünsche in Themenateliers integriert und einen Versuch gewagt, die verschiedenen Bedürfnisse abzudecken. Letztendlich konnten die Menschen mit Unterstützungsbedarf wählen, wo sie arbeiten wollen.
 

Verstehe ich das richtig, dass sich damit auch der Arbeitsalltag der Mitarbeitenden stark gewandelt hat?

Natürlich, auch für Mitarbeitende gibt es einen Wandel. Wir haben uns auf den Weg gemacht und versuchen unseren Auftrag neu zu verstehen. Der therapie- und förderzentrierte Ansatz ist nicht mehr gefragt. Unser Handeln orientiert sich zunehmend an den Bedürfnissen von den Menschen mit Unterstützungsbedarf. Dieser Wandel braucht Zeit, mehr als wir gedacht haben. Wir sind unterwegs und sind noch nicht am Ziel.
 

Wie gestaltet sich dieser Weg? Wie erhalten Ihre Kolleg:innen Unterstützung in diesem Wandlungsprozess?

Wir organisieren interne Schulungen für die Mitarbeitenden. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit unseren Werten und Haltungen. Ein weiterer Teil der Schulung beinhaltet die Arbeit mit den Biografien der Menschen mit Unterstützungsbedarf, Methoden der Zukunftsplanung und die konkrete Arbeit mit dem Lebensqualitätsmodell.

Um den Lernprozess zu unterstützen, wurde die interne Fachstelle Lebensqualität eingerichtet, die ich leite. In erster Linie coache ich die Mitarbeitenden und sorge für einen niederschwelligen und praxisnahen Zugang zum Konzept.
 

Nun setzen Sie das Konzept seit einigen Monaten um. Gibt es bereits Veränderungen, die sie feststellen?

Ich kann Ihnen ein konkretes Beispiel erzählen, die Geschichte von Frau B. Wir haben unsere Arbeitsdienstleistung mit sogenannten Themenateliers neu definiert. Frau B. konnte sich nicht entscheiden. «Ich will einfach den ganzen Tag nur schwimmen gehen», war ihre Antwort auf die Frage, was sie den gerne Arbeiten würde. Heute assistiert sie der Physiotherapie im internen Therapiebad und kann schwimmend Arbeiten. Ich finde dieses einfache Beispiel zeigt, wie die offene Herangehensweise zu neuen Lösungen führen kann.
 

So wie Sie das Konzept Lebensqualität schildern weist es viele Parallelen zur individuellen Hilfeplanung (IHP) auf.

Im Rahmen der Lebensqualitätsplanung fragen wir die Menschen was ihnen wichtig ist, wie sie wohnen, ihre Freizeit verbringen und was sie arbeiten wollen. Zentrales Instrument ist ein Lebensqualitätsplan, der nach individuellen Wünschen und Bedürfnissen fragt, Ziele formuliert und Massnahmen herauskristallisiert. Tatsächlich decken sich viele Fragen mit jenen des IHP. Eine Synergie, die uns freut.
 

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus dieser Umstellungserfahrung, die Sie mit unseren Mitgliedern teilen möchten?

Wir wollten, dass ein Instrument Freude macht beim Arbeiten und uns unterstützt beim Reflektieren. In dieser Umstellungsperiode ist mir klar geworden, dass alle Beteiligten lernend sind, die Menschen mit Unterstützungsbedarf genauso wie die Angehörigen und die Mitarbeitenden.


Interview: Saambavi Poopalapillai
Bild: Gabrielle Henderson